Customer Experience Management: aus Kunden wahre Fans machen Gespräch mit CEM-Expertin Tullia Wyssbrod, Post CH AG
Wie gelingt es Unternehmen, ihre Kunden zu begeistern? Tullia Wyssbrod weiss es. Die Expertin für «Customer Experience Management» (CEM) bei der Schweizerischen Post beschäftigt sich täglich mit der Frage, was Kunden wirklich wollen. Im Interview gibt Wyssbrod einen Einblick ins Kundenerlebnismanagement der Post und sagt, worauf Firmen achten müssen, wenn sie Customer Experience Management einführen.
Frau Wyssbrod, wie sehr achten Sie persönlich auf Marketing- und Werbemassnahmen?
Seit ich mich beruflich stark mit dem Thema CEM auseinandersetze, achte ich auch privat viel intensiver darauf, wie ich als Kundin etwas wahrnehme. Und wenn ein Erlebnis besonders gut oder schlecht ist, überlege ich, woran das liegen könnte.
Haben Sie ein Beispiel für ein solch «besonders gutes» Kundenerlebnis?
Ja, vor Kurzem wollte ich mich für einen Kurs anmelden, doch es hatte keinen freien Platz mehr bei der gewünschten Kursleiterin. Anstatt mir nur abzusagen, machte sie sich die Mühe, mir jemanden anderen zu empfehlen. Und eine Woche später fragte sie nach, ob alles geklappt habe. Damit hat die Kursleiterin mit wenig Aufwand einen sehr guten Eindruck bei mir hinterlassen.
Die Sensibilisierung hat stattgefunden: Viele Unternehmen haben die Wichtigkeit eines guten CEM erkannt und wissen, dass sie viel damit erreichen können.
Tullia Wyssbrod
Die Begriffe CEM und Customer Journey werden verschieden definiert. Worin liegen die Unterschiede?
Die Customer Journey ist die Darstellung eines Kundenerlebnisses. Sie bildet alle Schritte ab, die der Kunde durchläuft – vom ersten Kontakt bis zu einer konkreten Zielhandlung, einem Einkauf zum Beispiel, und gegebenenfalls weiter bis zu einer Kontaktaufnahme mit dem Kundendienst. Häufig wird die Customer Journey durch eine Emotionskurve angereichert, die zeigen soll, wie sich der Kunde bei den einzelnen Schritten fühlt. CEM ist das übergeordnete Management verschiedener solcher Kundenerlebnisse und greift damit weiter als die Customer Journey. Es beinhaltet nicht nur die erfassten Kundenreisen, sondern auch gewonnene Erkenntnisse und daraus resultierende Verbesserungsvorschläge. Customer Experience Management ist ein Teil der Unternehmenskultur, eine Philosophie. Eine Firma entscheidet sich bewusst, Projekte und Vorhaben nach den Kundenbedürfnissen auszurichten und damit die Kundenperspektive einzunehmen.
Wo genau fängt eine Customer Journey an und wo hört sie auf?
Sie beginnt mit dem ersten Gedanken, den sich ein Kunde zu einem Unternehmen, einem Produkt oder einer Marke macht. Das kann reine Wahrnehmung sein oder bereits ein konkretes Bedürfnis. Grundsätzlich dauert eine Customer Journey so lange, bis ein Angebot genutzt, erneuert oder gekündigt wird. Sobald eine Kundenreise abgeschlossen ist, beginnt eine neue, das ist ein wiederkehrender Prozess. Eine Customer Journey sollte immer mit einem positiven Gefühl enden. Kündigt der Kunde beispielsweise sein Abonnement, sollte sich das Unternehmen für die Zusammenarbeit bedanken und, wo sinnvoll, den persönlichen Kontakt suchen.
Warum ist ein funktionierendes Customer Experience Management in der heutigen Marketingwelt so wichtig?
Um auf dem Markt konkurrenzfähig zu bleiben, müssen Unternehmen schnell reagieren und auf die Bedürfnisse der Kunden eingehen. Das ist nur möglich, wenn sie wissen, was die Kunden wollen. Letztlich entscheiden ja immer die Kunden, welche Produkte und Dienstleistungen sie kaufen möchten.
Wie weit sind Schweizer KMU in Bezug auf CEM?
Die Sensibilisierung hat stattgefunden: Viele Unternehmen haben die Wichtigkeit eines guten CEM erkannt und wissen, dass sie viel damit erreichen können. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass die Umsetzung oftmals schwierig ist. Insbesondere kleineren Firmen und Privaten fehlt häufig Know-how sowie finanzielle und personelle Ressourcen: Manche können und wollen gar nicht in Customer Experience Management investieren.
Das ist nachvollziehbar. Weshalb sollten sie es sich aber vielleicht doch überlegen?
Letztlich geht es immer um zufriedene Kunden. Sie sind der Schlüssel zum Erfolg jedes Unternehmens. Es muss das Ziel sein, aus normalen zunächst loyale Kunden und wahre Fans des Unternehmens zu machen, die die Produkte und Dienstleistungen weiterempfehlen. Bei unseren eigenen Projekten haben wir gemerkt, dass die Kunden bereit sind, für gute, hochwertige Angebote mehr zu bezahlen. Insofern lohnt es sich für Firmen, Zeit und Geld in CEM zu investieren – unter dem Strich zahlt es sich aus.
Apropos eigene Projekte: Wie haben CEM-gestützte Erkenntnisse bei der Post bislang zum Erfolg geführt?
Ein Beispiel ist unser Projekt «Filiale der Zukunft». Es ging darum, die klassische Poststelle neu zu gestalten, da wir merkten, dass die Nachfrage nach diesem Angebot stark nachgelassen hatte. In engem Austausch mit unseren Kunden haben wir zuerst definiert, wer überhaupt noch auf die Post geht. Danach wollten wir diese Kundentypen mit ihren Bedürfnissen und Vorlieben genau kennenlernen und führten entsprechende Befragungen durch. Es stellte sich heraus, dass vor allem ältere Personen und nichtberufstätige Frauen mit ihren Kindern das Angebot nutzen. Also statteten wir die Filialen entsprechend mit Kinderecken und Sitzgelegenheiten aus. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es für Unternehmen ist, bei der Entwicklung neuer Ideen die Kunden einzubeziehen und deren Bedürfnisse und Feedbacks einfliessen zu lassen.
Wir glauben immer zu wissen, was die Kunden wollen, aber oftmals ist das nicht der Fall.
Tullia Wyssbrod
Wenn eine Firma CEM einführen möchte, worauf muss sie achten?
Ganz wichtig ist, dass das Management dahintersteht. Ebenso müssen die Mitarbeitenden an der Front ins Boot geholt werden. Das Unternehmen sollte flexibel und offen für neue Herangehensweisen sein. Wir glauben immer zu wissen, was die Kunden wollen, aber oftmals ist das nicht der Fall. Im Gegenteil: Manchmal braucht es eine Drehung um 180 Grad! Bei der Post haben wir einige Vorhaben aufgrund von Kundenfeedbacks sogar eingestellt. Was für den Kunden keinen Nutzen bringt, ist für das Unternehmen wirtschaftlich nicht rentabel. Deshalb rate ich einer Firma, sich bei jedem Projekt Inspiration direkt von den Kunden selbst zu holen. Und schliesslich sollten in der Anfangsphase sicherlich auch geeignete Methoden und Tools ausprobiert werden. Dazu zählen qualitative Interviews, Personas oder ein Service Blueprint, mit dem sich alle zu einem Service gehörenden Prozesse in chronologischer Reihenfolge visualisieren lassen.
Eine Customer Journey führt über verschiedene Touchpoints – also Berührungspunkte, die ein Kunde mit dem Unternehmen hat. Wie kann eine Firma das Wissen über ihre Kunden konkret an den einzelnen Touchpoints einsetzen und damit das Kundenerlebnis gestalten?
Beim Customer Experience Management werden Informationen zu Nutzererlebnissen erhoben, etwa wann ein Nutzer eine Website besucht und wonach er sucht. Grundsätzlich helfen diese Daten dabei, die einzelnen Touchpoints nach den Bedürfnissen der Kunden zu gestalten. Einmal mehr gilt: Das Unternehmen muss prüfen, welche Berührungspunkte – z.B. eine Verkaufsstelle oder ein Onlineshop – von welchen Kunden genutzt werden, damit es gezielte Massnahmen ergreifen kann. Bei der Post legen wir viel Wert darauf, bei unseren Angeboten die digitale und physische Welt miteinander zu verbinden. Ein Beispiel aus der Praxis: Eine Kundin erhielt von einem Zusteller eine beleglose Nachnahme. Das sind Waren, die gegen Bargeld ausgeliefert werden. Da die Kundin kein Bargeld zur Hand hatte, empfahl ihr unser Mitarbeiter die Bezahl-App TWINT und half ihr bei der Installation der App. Die Kundin nutzt diesen Dienst seither regelmässig.
CEM ist ein Teil eines sich stetig wandelnden Umfelds. Wagen Sie eine Prognose, wie sich dies in Zukunft weiterentwickeln wird?
CEM wird für Unternehmen weiter an Bedeutung gewinnen. Die Kunden werden mehr eingebunden und zu Interviews, Tests und Feedbackrunden eingeladen – weg vom «Wir entwickeln, der Kunde nutzt» hin zum «Wir entwickeln gemeinsam mit dem Kunden».
Was raten Sie Unternehmen, damit sie «à jour» bleiben?
Bei der Post prüfen wir zurzeit, einen Pool mit Geschäftskunden aufzubauen, quasi einen Stamm an Kunden, auf den wir bei Bedarf immer zugehen dürfen. Das macht es einfacher, die Kunden in die Weiterentwicklung einzubeziehen und sie zu Pilottests oder Umfragen einzuladen. Für kleinere Firmen ist dies ebenfalls machbar, eine Gruppe von circa zehn Kunden reicht bereits. Nach Möglichkeit sollte der Pool aus unterschiedlichen Kundentypen bestehen.
Der Mensch bleibt Mensch und fällt Entscheidungen, die nicht vorhersehbar sind. Wie gehen Sie damit um?
Wir müssen damit leben, dass wir es nie allen recht machen können. Es hilft, wenn sich Unternehmen bei Projekten jeweils auf eine Kundengruppe fokussieren und diese bestmöglich abholen. Sollte es allerdings mehrere negative Rückmeldungen zu einem Produkt oder einer Dienstleistung geben, muss man einen Schritt zurück machen und das Problem analysieren. Was heute gut ist, ist morgen vielleicht nicht mehr gut. Agil sein und bleiben ist für Unternehmen unabdingbar.
leitet seit Sommer 2017 die Geschäftsstelle des Fachausschusses Marketing bei der Schweizerischen Post und ist Expertin für Customer Experience Management (CEM). Zuvor war sie bereits mehrere Jahre in verschiedenen Funktionen bei der Post tätig. Sie kommt ursprünglich aus der Hotellerie und verfügt über einen Abschluss in Betriebswirtschaft.
Das Interview wurde im Herbst 2018 durchgeführt.