Werbung ohne Cookies: Schweiz statt Silicon Valley Expertengespräch zum Marketing in der Post-Cookie-Ära
Schluss mit Onlinewerbung wie im Wilden Westen: Die Nach-Cookie-Ära bedeutet einen Neubeginn und bringt klare Leitplanken. Wie gelingen erfolgreiche Onlinekampagnen ohne Third-Party-Cookies? Maximilian Groth, Philip Michel und René Plug sprechen über die nötigen Technologien, den richtigen Umgang mit Daten – und darüber, warum das Prinzip «Spray and Pray» definitiv ausgedient hat.

Der Begriff «Post-Cookie-Ära» klingt nach einem neuen Zeitalter in der Werbung. Zu Recht?
René Plug, Leiter der Arbeitsgruppe Data & Identity der IAB Switzerland: Ja, es hat wirklich eine neue Ära begonnen. Das bisherige System der Onlinewerbung mit Third-Party-Cookies hat technisch sehr gut funktioniert und unglaublich viele Möglichkeiten geschaffen. Aber es war kaum reguliert und das führte zu Zuständen wie im Wilden Westen. Mit dem Verschwinden der Cookies ist die Branche erwachsen geworden.
Maximilian Groth, CEO & Co-Founder von Decentriq: Ich empfinde die Abkehr von den Cookies ebenfalls als grossen Wandel. Die neue Ära schafft nun neue Opportunitäten – für die Werbetreibenden und vor allem für Medienkonzerne, die über hochwertige Login-Daten ihrer Nutzerinnen und Nutzern verfügen. Es besteht die Chance, durch Kollaborationen ein attraktives Werbeumfeld zu schaffen und so einen grösseren Teil der Werbebudgets in der Schweiz zu halten.
Google lässt auf dem Browser Chrome nun doch weiterhin Third-Party-Cookies zu. Ist durch diese Kehrtwende die Ablösung der Cookies bereits wieder Geschichte?
René Plug: Genau diese Frage haben wir unseren Mitgliedern der IAB Switzerland – dem Verband der digitalen Marketing- und Werbebranche – in einer Umfrage gestellt. Die Antwort lautete fast ausnahmslos: Nein. Die Werbewirtschaft sagt sich: «Wir können uns nicht von einem Konzern abhängig machen, der seine Policy immer wieder anpasst, sondern müssen selbst die richtigen Entscheidungen treffen.» Und die richtige Entscheidung ist, sich von Cookies zu verabschieden – wegen des zunehmenden Privacy-Verständnisses und der dazugehörenden Erwartungshaltung im Markt, der Datenregulierung und um näher zur Kundschaft zu kommen.
Philip Michel, Head of Customer Data von Post Advertising: Die Regulierung orientiert sich hin zu mehr Transparenz und will die Selbstbestimmung der Konsumierenden fördern. Cookies sind damit nicht kompatibel.
Maximilian Groth: Von unseren Kundinnen und Kunden wissen wir, dass die Schweizer Firmen auf die Entscheidung von Google eher genervt reagiert haben. Immer mehr Werbetreibende wollen sich von den grossen Konzernen emanzipieren und das Targeting selbst in die Hände nehmen.
Wie gelingt die Personalisierung ohne Cookies?
Philip Michel: Indem die Werbetreibenden ihre eigenen Interaktionsdaten nutzen. Diese First-Party-Daten helfen den Unternehmen, ihre Kundinnen und Kunden besser zu verstehen und ihnen relevante Informationen auszuspielen. Auf der anderen Seite wissen die grossen Medienhäuser – die Publisher – wer sich wie auf ihren Plattformen bewegt. Wenn die Informationen dieser beiden Seiten miteinander verknüpft werden, gelingt die Personalisierung auf dem Inventar der Publisher.
René Plug: Klar ist: Wir können und wollen nicht mehr zurück in eine Welt, in der wir Werbung nach dem Prinzip «Spray and Pray» breit und ziellos streuen – und hoffen, dass sie doch noch irgendwie die Zielgruppe erreicht.
Philip Michel: Wenn ich mit Personen spreche, die sich an Onlinewerbung stören, nennen sie oft komplett unpassende Werbeinhalte als Grund für ihre Abneigung. Unsere ganze Branche hat also ein grosses Interesse daran, es besser hinzubekommen, damit Werbung nicht nur ein Störfaktor ist, sondern hilfreiche Information.
Maximilian Groth: Und wenn diese datengestützte Werbung auf den Plattformen der Schweizer Publisher ausgespielt wird, unterstützt sie den Qualitätsjournalismus, was ich persönlich extrem wichtig finde.
Aber ist eine derart präzise Personalisierung, wie sie Third-Party-Cookies bisher erlaubten, noch möglich?
Maximilian Groth: Ja, etwa basierend auf Identifikationsmerkmalen wie E-Mail-Adressen. In der Schweiz gibt es eine gemeinsame Lösung der grossen Publisher: Es handelt sich dabei um die OneID unter OneLog – eine Lösung für plattformübergreifendes Tracking mithilfe einheitlicher IDs. So kann die Schweizer Werbebranche als Alternative zu den geschlossenen digitalen Ökosystemen der grossen Techfirmen, den Walled Gardens, einen Swiss Garden aufbauen.
René Plug: Allerdings müssen wir noch an der Reichweite arbeiten. Sie zu erhöhen, ist eine Herausforderung. Aber es gibt viele spannende Technologien, die uns in diesem Bereich helfen können – allen voran natürlich KI.
Maximilian Groth: Die Herausforderung, die Reichweite zu erhöhen, ist meiner Meinung nach gar nicht so gross. Wenn die Werbetreibenden einen Bestand an sehr guten First-Party-Daten haben, lässt sich mit KI eine Look-alike-Erweiterung machen: Die KI erkennt gemeinsame Eigenschaften der Kundschaft und findet potenzielle Kundinnen und Kunden mit ähnlichen Merkmalen und Verhaltensweisen.
Philip Michel: Zudem empfehlen sich Datenpartnerschaften, zum Beispiel mit Einzelhandelsfirmen, die grosse Mengen an Transaktionsdaten haben, oder mit Post Advertising.
In welche Technologien der Nach-Cookie-Welt sollten Werbetreibende investieren?
René Plug: Es geht nicht primär darum, selbst zu investieren. Viel wichtiger sind das Interesse und die Offenheit gegenüber Systemen, die die Publisher oder andere Anbieter realisieren. Ich denke etwa an die Schweizer Identity-Lösungen, die Maximilian bereits erwähnt hat. Oder auch an geschützte digitale Umgebungen wie Data Clean Rooms, um sensible Daten sicher analysieren und austauschen zu können. Sie sind eine wichtige Komponente der First-Party-Welt …
Maximilian Groth: … und genau unser Businessmodell bei Decentriq. Unser Spitzname ist «Switzerland of Data», weil wir eine neutrale und sichere Instanz sind, damit Publisher und Werbetreibende ihre First-Party-Daten gemeinsam nutzen können. Dabei kommt uns zugute, dass die Datenökonomie im Marketingbereich schon weit entwickelt ist: Viele Unternehmen verwenden Daten systematisch als zentrale Ressource, um ihre Werbemassnahmen zu optimieren.
Philip Michel: Aus Publisher-Sicht gedacht, stellt sich eine wichtige Frage: Wie schaffen wir es, die Personen in den verschiedenen Werbeinventaren der Publisher richtig zu identifizieren? Machen wir das über Lösungen wie OneLog, wo wir eindeutige IDs nutzen? Oder gelingen uns Kollaborationen über Data Clean Rooms, sodass wir die Personendaten gar nicht benötigen und dennoch gute Targeting-Resultate erhalten. Das zeigt – um auf die Frage zurückzukommen: Es braucht nicht immer eine Applikation oder eine Technologie, sondern manchmal auch ein grösseres Ganzes.
Ich höre aus Ihren Antworten heraus: Partnerschaften sind in der Post-Cookie-Ära unerlässlich. Wie gehen die Werbetreibenden am besten vor, um die Vorteile von Kooperationen zu nutzen?
René Plug: Entstehen müssen diese Kooperationen vor allem auf Seiten der Publisher. Sie haben es in der Hand, ein gemeinsames, für die Werbetreibenden leicht zugängliches Universum aus allen starken redaktionellen Titeln aufzubauen. Nur so schaffen sie die nötige Reichweite und Relevanz. Von den Werbetreibenden braucht es dann die Bereitschaft, nicht nur auf TikTok, Meta und Google zu setzen, sondern auch auf dieses Schweizer Metaverse.
Maximilian Groth: Genau – Schweiz statt Silicon Valley. Denn hier gibt es ein erstklassiges Inventar an Werbeplätzen. Dieses wird noch attraktiver, wenn es durch eine One-Stop-Lösung verfügbar ist.
Philip Michel: Bei den Werbetreibenden, mit denen wir bei Post Advertising zusammenarbeiten, merken wir: Sie sind auf der Suche nach neuen Lösungen und durchaus bereit, ihre Budgets anders einzusetzen. Wir empfehlen ihnen dabei Ansätze, die nicht nur auf einem Kanal, sondern crossmedial funktionieren. Was das mit Daten und Cookies zu tun hat? Wir können heute die First-Party-Daten von Werbetreibenden in einem sicheren Umfeld auswerten und dieselben Abgleiche machen wie in der Cookie-Ära – aber datenschutzkonform. So erhalten die Unternehmen Empfehlungen, wie sie die relevante Zielgruppe über ein crossmediales Inventar am besten erreichen können. Die Voraussetzung dafür ist eine Customer-Data-Plattform, die die Daten sauber selektieren und mit uns teilen kann.
Da werden die Werbetreibenden aber sagen: «Meine Kundendaten gebe ich niemals heraus!»
Philip Michel: Diesen Satz höre ich tatsächlich oft. Aber die Bedenken sind unbegründet. Denn der Datenaustausch zwischen Werbetreibenden, Werbeanbietern und Publishern kann heute über sichere Technologien erfolgen oder vertraglich geregelt werden. Für die Werbetreibenden lohnt sich dieser Schritt, weil sie von neuen Targeting-Möglichkeiten profitieren.