«Wenn die Lösung zu einfach klingt, wäre ich skeptisch» Interview mit Esther Cahn zu Marketing Mix Modeling
Marketing Mix Modeling zeigt, wie stark die einzelnen Massnahmen zum Marketingerfolg beitragen. Doch welche Aussagekraft haben die Resultate wirklich? Wie lässt sie sich steigern? Und wo liegen die Stolpersteine dieses statistischen Analyseverfahrens? Die Antworten von Expertin Esther Cahn.
Frau Cahn, was sind die Stärken von Marketing Mix Modeling – auch im Vergleich mit anderen Methoden?
Esther Cahn: Mit Marketing Mix Modeling lässt sich abbilden, wie sich einzelne Variablen auf den Marketingerfolg auswirken. Es zeigt also, was tatsächlich passiert. Wenn das Modell etwa auf den Abverkauf ausgerichtet ist, können wir damit nachvollziehen, welche Massnahmen wie stark zum Verkauf der Produkte beigetragen haben. Da haben andere Methoden Schwächen. Nehmen wir zum Beispiel Befragungen: Hier werden Konsumentinnen und Konsumenten gefragt, ob sie sich aufgrund der Werbung vorstellen könnten, ein bestimmtes Produkt zu kaufen. Dann sagen sie oft etwas anderes, als sie wirklich denken – und kaufen das Produkt am Ende doch nicht.
Marketing Mix Modeling ist ein statistisches Analyseverfahren, um die Wirkungsbeiträge einzelner Massnahmen und Kanäle im Marketing zu messen: Es hilft Unternehmen und Non-Profit-Organisationen zu verstehen, wie stark sich die Massnahmen und Kanäle auf zentrale Kennzahlen wie Umsatz bzw. Spendenvolumen, Neukundinnen bzw. Erstspender und Markenbekanntheit auswirken. Die Grundlage für das Verfahren sind in erster Linie zurückliegende (historische) Daten. Neben den Media Spendings lassen sich auch äussere Einflüsse wie das Wetter, Feiertage oder grosse Sportereignisse berücksichtigen. Alle einbezogenen Daten werden analysiert, um statistische Zusammenhänge zu identifizieren und basierend darauf den Mediamix zu optimieren.
Wo stösst Marketing Mix Modeling an Grenzen?
Ein zentraler Knackpunkt sind die verfügbaren Daten. Im Marketing gibt es oft nur wenige Datenpunkte. Wenn eine Kampagne beispielsweise drei Wochen dauert und wir auf Tagesbasis modellieren, haben wir gerade einmal 21 Datenpunkte. Aus statistischer Sicht ist das eine dürftige Datengrundlage. Auf ein einmaliges Modell würde ich mich daher eher nicht verlassen. Wirklich aussagekräftig ist ein Marketing Mix Modeling für mich erst, wenn es kontinuierlich wiederholt und verifiziert wird. Man muss sich aber bewusst sein: Es widerspiegelt trotzdem nie die absolute Wahrheit. Diese Erwartung wäre unrealistisch. Marketing Mix Modeling liefert aber immerhin zuverlässige Indikatoren, auf deren Basis man datenbasierte Entscheidungen treffen kann – und das ist definitiv viel besser als reines Bauchgefühl. Wer damit arbeitet, sollte die Resultate jedoch immer wieder überprüfen und kritisch hinterfragen. Unrealistisch sind auch Erwartungen, die oft von grossen Publishern wie Google oder Meta geweckt werden.
Mein wichtigster Tipp an interessierte Unternehmen lautet: Gehen Sie bei den Daten immer die Extrameile.
Esther Cahn
Warum sind diese Erwartungen unrealistisch?
Diese Unternehmen stellen kostenlose Modell-Templates zur Verfügung, die auf den ersten Blick verlockend wirken. Doch erstens sind Modelle nie per se neutral. Deshalb sollte man sich immer überlegen, ob derjenige, der das Modell oder die Resultate liefert, vielleicht eigene Interessen verfolgen könnte. Zweitens ist es fahrlässig, wenn Modelle ohne ausreichendes Fachwissen eingesetzt werden. Tatsächlich gibt es so viele schlechte oder schlecht angewendete Modelle, dass es manchmal wissenschaftlicher wäre, die Resultate zu würfeln. Für ein belastbares Marketing Mix Modeling braucht es fundiertes Data-Science- und Media-Fachwissen. Deshalb sollte es immer von Profis durchgeführt werden. Wenn die Lösung zu einfach klingt oder zu billig ist, wäre ich skeptisch.
Worauf sollte man bei der Auswahl des Partners für ein Marketing-Mix-Modeling-Projekt achten?
Der Anbieter sollte neutral sein, er muss sich mit verschiedenen Modelltypen auskennen sowie Erfahrung in der Modellierung und ein solides Mediaplanungswissen mitbringen. Er sollte mit unterschiedlichen, auch heterogenen Datenquellen umgehen können und die Besonderheiten der Branche verstehen. Am besten hat er schon für Kundinnen und Kunden aus der selben Branche gearbeitet und ähnliche Projekte erfolgreich umgesetzt. Es lohnt sich auch, Referenzen einzuholen, um ein Gefühl für die Qualität der Arbeit und die Zusammenarbeit zu bekommen. Wichtig ist zudem, dass der Partner die Ergebnisse verständlich erklärt und so aufbereitet, dass sie im Unternehmen akzeptiert und in konkrete Massnahmen umgesetzt werden können.
Welche Modellierungsansätze kommen in der Praxis am häufigsten zum Einsatz?
Viele Anbieter setzen auf bayesianische Modelle. Diese berechnen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt – basierend auf dem bisherigen Kenntnisstand und den vorliegenden Daten. Solche Modelle haben einen grossen Vorteil: Man kann ihnen einen Rahmen vorgeben, in dem sie nach Effekten suchen sollen. Das verhindert, dass sie völlig unrealistische Ergebnisse liefern. Anders gesagt: Extreme Ausreisser werden vermieden, weil das Modell innerhalb plausibler Grenzen rechnet. Zum Beispiel behauptet das Modell dann nicht, ein Kanal habe einen x-fach höheren Effekt als alle anderen. Allerdings schränkt diese Steuerung auch die Neutralität des Modells etwas ein.
Welche weiteren Modelle werden angewendet?
Neben den bayesianischen Modellen gibt es auch andere Ansätze wie klassische lineare oder multiple Regressionsmodelle. Vereinfacht gesagt untersuchen diese, wie sich Verkäufe über die Zeit verändern, wenn man die Budgets für einzelne Kanäle erhöht oder senkt. Um ein wirklich belastbares Gesamtbild zu bekommen, lässt sich Marketing Mix Modeling um weitere Methoden ergänzen, etwa um ein Attributionsmodell.
Wie funktionieren solche Attributionsmodelle?
Da werden unterschiedliche Methoden eingesetzt. Sie haben aber gemeinsam, dass sie einzelne Customer Journeys unter die Lupe nehmen – also die Abfolge von Kontaktpunkten, die eine Kundin oder ein Kunde bis zum Kauf durchläuft. Auf unserer Plattform werden Situationen sehr detailliert innerhalb dieser Abfolgen mit Tausenden anderer, ähnlicher Situationen verglichen. So lässt sich herausfinden, welchen Anteil ein bestimmter Touchpoint am Gesamterfolg hat. Der Vorteil: Man ist viel granularer unterwegs als beim Marketing Mix Modeling, sieht sehr genau, welche Kanäle, Platzierungen oder Werbemittel den grössten Beitrag zu Conversions oder Umsätzen leisten, und kann die Budgets entsprechend steuern. Allerdings funktioniert Attribution nur, wenn der Kaufprozess digital stattfindet. Denn nur wenn der Kauf digital erfasst wird, kann er mit den vorangegangenen Kontaktpunkten verknüpft und deren Beitrag am Kauf ermittelt werden. In vielen Fällen liefert deshalb eine Kombination die aussagekräftigsten Resultate: Marketing Mix Modeling für den Gesamtüberblick, Attribution als Vertiefung für den digitalen Bereich und Befragungen, um das «Warum?» hinter den Ergebnissen noch besser zu verstehen.
Sie haben es bereits erwähnt: Die Aussagekraft von Marketing Mix Modeling hängt vor allem von der Datenqualität ab. Mit welchen Tipps lässt sich diese steigern?
Je granularer die Daten sind, desto genauer werden die Ergebnisse: Idealerweise erfasst man die Daten mindestens täglich. Das ist zwar aufwendig, aber für belastbare Resultate unverzichtbar. Wer sich auf voraggregierte oder hochgerechnete Publisher-Daten verlässt, wie man sie beispielsweise auch von Google oder Meta bekommt, arbeitet oft mit ungenauen Werten. Besser ist es, Rohdaten zu nutzen, weshalb wir für die digitalen Kanäle am liebsten Daten aus unserem eigenen Tracking einsetzen. Es kann hilfreich sein, schon vor einer Kampagne zu wissen, dass man ein Marketing Mix Modeling machen will. So können alle Partner und Agenturen von Anfang an dafür sorgen, dass die Daten in der richtigen Detailtiefe vorliegen und sauber strukturiert sind – etwa mit einer klaren Trennung zwischen Branding- und Performance-Massnahmen. Mein wichtigster Tipp an interessierte Unternehmen lautet: Gehen Sie bei den Daten immer die Extrameile. Nur so entsteht eine zuverlässige Grundlage für fundierte Entscheidungen.
Welches sind aus Ihrer Erfahrung die wichtigsten Erfolgsfaktoren bei der Implementierung von Marketing Mix Modeling?
Zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren gehört, dass alle Beteiligten bereit sind, mit den Ergebnissen zu arbeiten – auch wenn diese unbequeme Veränderungen bedeuten. Wer auf Marketing Mix Modeling setzt, sollte den Mut haben, Budgets umzuschichten, den Mediamix und die Prozesse anzupassen und die Messung fest in die Kampagnenplanung zu integrieren. Genauso entscheidend ist eine saubere Methodik, auf die man sich verlassen kann, damit Optimierungen in die richtige Richtung gehen.
Und die grössten Stolpersteine?
Dazu zählen fehlende Veränderungsbereitschaft, eingefahrene Gewohnheiten und interne Budgetkämpfe. Schwierig wird es auch, wenn an bestimmten Kanälen aus reiner Tradition festgehalten wird oder wenn das Modell methodische Schwächen hat. In beiden Fällen läuft man Gefahr, falsche Entscheidungen zu treffen. So geht das Vertrauen in Marketing Mix Modeling schnell verloren.
Welchen Stellenwert hat künstliche Intelligenz heute in der Modellierung – und wie verändert sie den Prozess?
Künstliche Intelligenz ist im Marketing Mix Modeling heute vor allem dort hilfreich, wo es um die Arbeit mit den Daten geht – weniger bei der Methode selbst. Die Modellierungsverfahren, die oft auf Machine Learning basieren, sind im Kern seit Jahren mehr oder weniger stabil und verändern sich zurzeit durch KI nur punktuell. Richtig spürbar ist der Nutzen in der Datenaufbereitung. Dort hilft KI, grosse Datenmengen schneller zu strukturieren und zu bereinigen. Auch bei der Arbeit mit den Ergebnissen spielt sie ihre Stärken aus: Statt mühsam Zahlen aus Reports herauszusuchen, kann man heute im Dashboard direkt Fragen stellen, sich Zusammenhänge visualisieren lassen und Hinweise für die Optimierung gewinnen. Kurz gesagt: KI unterstützt vor allem bei den vor- und nachgelagerten Schritten – grossen Einfluss auf die Methode selbst wird sie wohl erst in Zukunft haben.
Esther Cahn ist Vice President Strategy & Customer Growth bei Exactag. Das Unternehmen bietet als Pionier seit 15 Jahren eine Plattform, die Multi Touch Attribution und Marketing Mix Modeling integriert und Kampagnendaten in Marketing Insights übersetzt.