Sind Zielgruppen ein Auslaufmodell?

Sind Zielgruppen ein Auslaufmodell? Wie sich die Zielgruppendefinition verändert

Sie gehören seit jeher ganz selbstverständlich in jedes Marketingkonzept und jede Werbestrategie – die Zielgruppen. Doch Mikrosegmentierung und Hyper-Personalisierung sorgen dafür, dass sich die klassischen Cluster immer mehr auflösen. Ist es also an der Zeit, «Adieu Zielgruppen» zu sagen? Nachgefragt bei drei Fachpersonen.

Eine Reihe von verschiedenen und farbigen Spielzeugfiguren
Demografische Daten, Verhaltensdaten und weitere relevante Informationen helfen Unternehmen dabei, ihre Zielgruppen zu definieren und die darauf abgestimmte crossmediale Mediaplanung zu erstellen.

Digital affine Millennials in urbanen Gebieten der Schweiz mit Hochschulabschluss – so oder ähnlich lauten Zielgruppendefinitionen für Werbekampagnen. Die Funktion solcher Definitionen: Sie beschreiben, wer bestimmte Produkte oder Dienstleistungen in erster Linie kauft. Dadurch kann das Unternehmen auf die Bedürfnisse dieser Konsumentengruppe eingehen, sie gezielt ansprechen und somit Effektivität und Effizienz der Werbung steigern.

Die einzelnen Zielgruppen zeichnen sich durch gemeinsame Merkmale aus. Dahinter steckt die Annahme, dass sich Menschen mit ähnlichen Merkmalen auch ähnlich verhalten: Ihre Konsumgewohnheiten gleichen sich, sie sprechen auf die gleiche Werbung an und sie wählen Produkte nach denselben Kriterien aus.

Zielgruppen mit immer mehr Merkmalen

Lange Zeit konzentrierten sich Unternehmen beim Definieren ihrer Zielgruppen auf zwei Arten von Merkmalen:

  • Demografische Merkmale wie zum Beispiel Geschlecht, Alter, Wohnort, Familienstatus und Haushaltsgrösse im Business-to-Consumer-Bereich sowie Rechtsform, Standort, Branche, Unternehmensgrösse etc. im Business-to-Business-Bereich
  • Sozioökonomische Merkmale wie zum Beispiel Bildungsstand, Beruf und Einkommen

Diese Merkmale bilden die Zielgruppen allerdings ungenügend ab. Denn Menschen mit gleichen demografischen und sozioökonomischen Merkmalen können ganz unterschiedliche Lebensstile und Handlungsmotive haben. Deshalb sind bei der Zielgruppendefinition zunächst psychografische Merkmale hinzugekommen: Werte, Einstellungen, Wünsche, Trigger, Kaufmotive, Entscheidungsfaktoren etc.

Psychografische Merkmale sagen viel darüber aus, wie sich die Zielpersonen am wirkungsvollsten ansprechen lassen – aber wenig über die passenden Kanäle. Daher setzen Unternehmen bei der Zielgruppendefinition heute zusätzlich auf verhaltensbezogene Daten: unter anderem zum Informations- und Kaufverhalten sowie zu bevorzugten Touchpoints und Points of Purchase. Durch die Analyse dieser Daten erkennen sie Muster und verstehen das Verhalten entlang der Customer Journey besser.

Braucht es Zielgruppen noch?

Das Resultat dieses datenbasierten Vorgehens bei der Zielgruppendefinition ist immer häufiger eine Mikrosegmentierung. Anstelle weniger, breiter gefasster Zielgruppen definieren Unternehmen viele, sehr spezifische Kundengruppen, die sie möglichst gezielt mit individuell ausgesteuerter und automatisierter Werbung ansprechen wollen. Eine gute Entwicklung, müsste man meinen. Denn präzis definierte Kundensegmente und massgeschneiderte Angebote versprechen mehr Verkaufserfolg. Doch es gibt auch eine Kehrseite: Je genauer Unternehmen ihre Zielgruppen definieren, desto kleiner ist die von ihr repräsentierte Anzahl Konsumierender.

Da stellt sich die Frage: Sind Zielgruppen in einer Welt der hyper-personalisierten Werbung überhaupt noch sinnvoll? «Ja, definitiv!», sagt Danijel Sljivo, CEO der Agentur Ammarkt. «Gerade weil individuelle Bedürfnisse jetzt besser erkannt werden können, ist das Verständnis für die Zielgruppe wichtiger denn je.»

Gleicher Meinung ist Galina Helbling, Senior Strategist der Agentur Wunderman Thompson: «Sowohl auf strategischer als auch auf taktischer Ebene bleiben Zielgruppen für unsere tägliche Arbeit zentral. Sie helfen bei der Verständigung zwischen Agentur und Kundin oder Kunde und erleichtern Entscheidungen zu Budgetallokation, Kanalwahl und KPIs.»

«Wenn wir weit in die Zukunft blicken, brauchen wir den Zielgruppenansatz im Marketing möglicherweise tatsächlich nicht mehr, weil wir jede Person mithilfe Künstlicher Intelligenz als Individuum erfassen und ansprechen können», sagt Mirjam Hauser, Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz. «Doch davon sind wir heute noch weit entfernt. Hinzu kommt: Der Trend zur Individualisierung und das Clustern zu Zielgruppen widersprechen sich nicht. Menschen nehmen sich zwar als Individuen wahr und wollen selbstwirksam sein. Gleichzeitig fühlen sie sich aber auch gerne Gruppen zugehörig.»

7 gute Gründe für den Zielgruppenansatz

Grund 1: Zielgruppen als Startpunkt

Zielgruppen haben weiterhin eine übergeordnete Funktion für die Unternehmens- und die Marketingstrategie. Sie sind ein wichtiger Orientierungspunkt für Produktentwicklung, Markenpositionierung und Marktbearbeitung. Die Segmentierung dient anschliessend als Ausgangspunkt für eine stärkere Individualisierung im operativen Marketing. «Wir haben nicht den Anspruch, mit Zielgruppen die Wirklichkeit vollständig abzubilden», sagt Galina Helbling. «Aber sie sind ein Konstrukt, das uns konzeptionelle Überlegungen erleichtert.»

Grund 2: Gleiche Bedürfnisse

Die Konsumbedürfnisse und die Anforderungen an Produkte sind bei vielen Menschen ähnlich oder sogar gleich. Dies erlaubt es, wenige, aber sinnvolle Cluster zu bilden. «Unternehmen sollten ihre Energie nicht in eine Mikrosegmentierung investieren, sondern in ein besseres Verständnis der Bedürfnisse, Interessen und Probleme der Hauptzielgruppen», sagt Danijel Sljivo von Ammarkt. «So lassen sich die Zielpersonen mit präziseren Botschaften ansprechen.» Diese bedürfnisorientierte Ansprache sollte gemäss Wirtschaftspsychologin Mirjam Hauser auch auf emotionaler Ebene erfolgen: «Wenn Werbung Emotionen der Zielgruppe wie Freude oder Angst gezielt weckt, sprechen wir von emotionalen Ankern.»

Grund 3: Datenschutz und Überpersonalisierung

«Wenn Unternehmen individuelle Daten zu intensiv nutzen, kann dies bei den angesprochenen Kundinnen und Kunden auf mangelnde Akzeptanz stossen und Bedenken zum Umgang mit ihren Daten auslösen», so Mirjam Hauser von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Oder wie es Danijel Sljivo sagt: «Ich möchte nicht auf jeder digitalen Werbung mit meinem Vornamen angesprochen werden.» Daher kann es für Unternehmen die bessere Lösung sein, die Werbung lediglich auf die Zielgruppe als Ganzes abzustimmen – und somit weniger stark zu individualisieren. Das Erstellen von Zielgruppen hilft also dabei, das Gleichgewicht zwischen relevanten Angeboten und dem Respekt für die Privatsphäre zu finden.

Grund 4: Praktikabilität

In der Theorie klingt es einleuchtend, potenzielle Kundinnen und Kunden mit möglichst persönlichen Botschaften und auf individuell abgestimmten Kanälen anzusprechen. Doch selbst wenn die Daten dafür vorhanden sind und aufbereitet werden können: Die Handhabung ist alles andere als trivial. «Sich an vielen individuellen Bedürfnissen zu orientieren, ergibt meist kein aussagekräftiges Bild», so Danijel Sljivo. Klassische Zielgruppenmodelle haben demgegenüber den Vorteil, dass die Zahl der Zielgruppen überschaubar bleibt. Das erleichtert die Umsetzung von Kampagnen.

Grund 5: Effektivität

«Zielgruppen ermöglichen uns, Werbestrategien auf Verbrauchergruppen auszurichten, die ein echtes Interesse an den Produkten oder Dienstleistungen unserer Kundinnen und Kunden haben könnten», sagt Danijel Sljivo. «So erreichen unsere Kampagnen die richtigen Personen und erzielen eine grössere Wirkung.»

Grund 6: Effizienz

Hyper-Personalisierung hat zwar das Potenzial, das Kundenerlebnis zu verbessern. Sie birgt aber auch die Gefahr, den Fokus der Kampagne zu verlieren, sich zu verzetteln und darum die Marketingressourcen ineffizient einzusetzen. Oft ist es effizienter, die Ressourcen auf bestimmte Zielgruppen zu konzentrieren.

Grund 7: Umsetzungskosten

Je individueller die Werbung ausgespielt wird, desto grösser wird der Aufwand, um Werbemittel und Botschaften anzupassen. Hier ergibt sich ein Trade-off zwischen persönlicher Ansprache und Kosten, der häufig für eine Beschränkung auf wenige Zielgruppen spricht.

Anforderungen an die Zielgruppendefinition

Diese Übersicht zeigt, dass Zielgruppen noch lange kein Auslaufmodell sind. Als Marketingansatz lassen sie sich bestens mit der aufkommenden Hyper-Personalisierung kombinieren. Zuerst werden die Zielgruppen definiert und anschliessend mithilfe der Hyper-Personalisierung so bearbeitet, dass hochrelevante, individuelle Kundenerlebnisse entstehen. Allerdings muss die Zielgruppendefinition mehrere Anforderungen erfüllen:

Konkrete Zielgruppen:

«Um Streuverluste zu minimieren, müssen Zielgruppen auf Basis einer gründlichen Analyse vor allem präzise und spezifisch definiert sein», sagt Danijel Sljivo von Ammarkt. Dieser Meinung ist auch Galina Helbling von Wunderman Thompson: «Der Ansatz ‹Wir möchten alle erreichen› funktioniert schlicht nicht. Hier wünsche ich mir von den Unternehmen mehr Mut: Sie sollten ihre Zielgruppen so konkret wie möglich definieren und auch festlegen, wen sie gerade nicht ansprechen wollen.»

Balance zwischen Datennutzung und gesundem Menschenverstand:

Eine zeitgemässe Zielgruppendefinition basiert auf Daten. Das ist unbestritten. Genauso wichtig bleiben laut Danijel Sljivo aber zwei weitere Ressourcen: «Unternehmen sollten auch auf gesunden Menschenverstand und auf ihre Erfahrung setzen. Gerade bei den weitreichenden Entscheidungen zu Zielgruppen ist es wichtig, die Aussagen von Daten sorgfältig zu interpretieren und kritisch zu hinterfragen.» Der umgekehrte Ansatz bewährt sich ebenfalls, wie Galina Helbling aufzeigt: «Oft definieren unsere Kundinnen und Kunden ihre Zielgruppen und deren Customer Journeys anhand ihrer Erfahrungen. Gemeinsam überprüfen wir diese Definition dann vertieft anhand von Daten.»

Crossmediale Integration:

Konsumierende bewegen sich bei ihrer Customer Journey meist auf verschiedenen digitalen und physischen Kanälen. Daher sollten Unternehmen keine Zielgruppen nur für einzelne Kanäle wie zum Beispiel für ihre Social-Media-Plattformen bestimmen. Stattdessen müssen Zielgruppen so segmentiert werden, dass sie sich über verschiedene Marketingkanäle hinweg mit konsistenten Botschaften erreichen lassen.

Generationsspezifische Unterschiede:

Das Alter als Merkmal von Zielgruppen rückt vermehrt in den Hintergrund. Abgelöst wird es durch die Zugehörigkeit zu einer Generation (Boomer, X, Y, Z, Alpha). Denn im Gegensatz zum Alter als eher abstrakte Grösse lassen sich den Generationen leichter typische Bedürfnisse, Präferenzen, Kommunikationsgewohnheiten und Verhaltensweisen zuordnen.

Soziokulturelle Unterschiede:

Wegen der Globalisierung sind immer mehr Firmen in verschiedenen Kulturkreisen tätig. In diesem Fall muss die Zielgruppendefinition die teilweise erheblichen kulturellen und soziokulturellen Unterschiede berücksichtigen. Wenn Unternehmen vorwiegend auf Verhaltensdaten setzen – den Fokus zum Beispiel auf Mediennutzung und bevorzugte Touchpoints legen –, besteht die Gefahr, solche Differenzen zu übersehen. Diese zeigen sich vor allem bei den psychografischen Merkmalen. Laut Mirjam Hauser von der Fachhochschule Nordwestschweiz sind selbst innerhalb der Schweiz deutliche soziokulturelle Unterschiede zu beobachten – und sie werden unterschätzt: «Das liegt daran, dass sich hierzulande fast alle Leute dem Mittelstand zurechnen. Die Fakten sagen aber etwas anderes.»

Werte:

Damit Unternehmen die richtigen Zielgruppen definieren, sollten sie stark auf die Werte ihrer bestehenden und potenziellen Kundinnen und Kunden achten. Denn immer mehr Konsumierende setzen bei ihren Kaufentscheidungen auf Marken, die ihre Werte teilen. Kennt das Unternehmen diese Werte, kann es sich laut Mirjam Hauser den Effekt der kognitiven Dissonanz zunutze machen – die Zielgruppe also auf Verhaltensdefizite aufmerksam machen. Die Wirtschaftspsychologin nennt ein Beispiel: «Einer Zielgruppe, die stark auf Nachhaltigkeit achtet, kann ich in der Werbung aufzeigen, in welchem Bereich sie sich noch nicht nachhaltig verhält und wie sie dieses Defizit mit dem beworbenen Produkt beseitigt.»

Zukunftserwartungen:

Wie Menschen die Zukunft sehen, geht weit auseinander und wird daher für die Zielgruppendefinition relevanter. «Wenn Unternehmen ihre Zielgruppen auch nach Zukunftserwartungen segmentieren, können sie die Hoffnungen und Befürchtungen dieser Personen gezielt mit Codes wie Begriffen und Bildern ansprechen», sagt Mirjam Hauser.

Zielgruppen anpassen: Wie oft ist genug?

Lange Zeit war es üblich, in einem Marketingkonzept oder einer Werbestrategie die Zielgruppen einmal zu definieren und dann unverändert zu lassen. Diese statische Definition reicht heute nicht mehr aus. Stattdessen beobachten erfolgreiche Unternehmen laufend die Entwicklung in ihrem Marktumfeld und das Verhalten ihrer Zielgruppen und schärfen regelmässig deren Definition.

Wie häufig dies geschehen sollte, hängt gemäss Mirjam Hauser primär von den Kapazitäten, dem Fachwissen und den Tools in den Unternehmen ab: «Effizienz geht hier vor Häufigkeit. Gerade kleinere Unternehmen können ihre knappen Ressourcen mit gutem Gewissen in eine seltenere, dafür aber fundierte und datengestützte Zielgruppendefinition investieren. Denn in der Sozialpsychologie sehen wir: Die grundsätzlichen Einstellungen und Werthaltungen der Menschen – und somit auch von Zielgruppen – verändern sich langsam und höchstens graduell.»

Tools für die Zielgruppendefinition

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