Megatrend Individualisierung Chance und Herausforderung
Der Trend zur Individualisierung von Produkten, zur sogenannten «Mass Customization», fordert Unternehmen heraus: Die Herstellung der Produkte und die Kommunikation mit den Kunden müssen angepasst werden. Neue Technologien helfen dabei und eröffnen sowohl der Gesellschaft als auch Unternehmen unzählige neue Möglichkeiten.
In wenigen Sekunden wird aus einem Standardprodukt das ganz eigene Ding. Auf mymuesli.com wird man zum Kreateur und klickt sich in tausendfacher Kombinationsmöglichkeit Flocken, Früchte, Nüsse und Toppings zusammen. Mit dem Online-Programm «NIKEiD» werden wir zu Designern und gestalten einen Turnschuh mit den bevorzugten Farben und dem Material nach Wunsch. Badeanzüge des italienischen Herstellers Calzedonia lassen sich neuerdings mit eigenen Sprüchen versehen.
Verändertes Konsumverhalten
Willkommen in der Welt von «Mass Customization», der Individualisierung von Produkten im Industriezeitalter. Dieser Trend fügt sich ein in den Megatrend der Individualisierung, wie ihn das Gottlieb Duttweiler Institut nennt: Eine tiefgreifende Entwicklung, die zahlreiche Bereiche der Gesellschaft erfasst und zunehmend verändert. Das betrifft auch das Konsumverhalten: Der Streaminganbieter Spotify lässt seine Kunden eigene Playlists zusammenstellen und schlägt entsprechend den Vorlieben neue Songs vor. Das führt dazu, dass einige Künstler ihre Songs gar nicht mehr in Alben, sondern einzeln veröffentlichen.
Die Technologie ist so weit
Nun erreicht der Megatrend Individualisierung auch den Bereich, der wie kein zweiter für Standardisierung steht: die Industrie. Und trifft auf eine zunehmende Nachfrage, gerade unter jungen Konsumenten. Dies zeigt das «Consumer Barometer» der Beratungsfirma KPMG Deutschland von 2017. Laut der Studie haben bereits 30 Prozent der befragten deutschen Konsumenten ein individualisiertes Produkt gekauft. 55 Prozent sind bereit, für solche Produkte tiefer in die Tasche zu greifen. Und 60 Prozent der Befragten erwarten, dass Unternehmen in Zukunft mehr individualisierte Produkte anbieten. Gewünscht werden mehr persönliche Optionen, in erster Linie bei Schuhen und Kleidern, aber auch bei der Wohnungseinrichtung und Elektronikprodukten. «Natürlich sind diese Wünsche auch der Veränderung der Gesellschaft geschuldet», sagt Marcus Schögel, Professor und Direktor des Instituts für Marketing an der Universität St. Gallen. «Aber heute reagieren nicht nur junge Konsumenten positiv auf individuelle Produkte. Entscheidend ist: Heute ist die Technologie so weit, dass die Industrie mit ihren Leistungen auf individuelle Ansprüche eingehen kann.»
Höhere Zahlungsbereitschaft vorhanden
Individuelle Produkte seien im Grunde nichts Neues, erklärt Schögel: Sie dominierten früher das Handwerk. Der Schreiner lieferte ein Möbel nach Mass, der Metzger schnitt das gewünschte Stück Fleisch zurecht. Im Luxussegment hat das Handwerk auch überlebt. Zum Beispiel der Massschneider, der einen perfekt sitzenden Anzug verspricht. Doch für die breite Kundschaft fokussierte sich die Wirtschaft in der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts auf Massenprodukte, die sich möglichst automatisiert herstellen liessen. Nur so liess sich der Konsumhunger einer schnell wachsenden Bevölkerung stillen. «Sie können einen Ford in jeder Farbe haben, solange er schwarz ist», lautet ein berühmtes Zitat von Henry Ford, dem Pionier der Fliessband-Produktion. «Erst in den 90er-Jahren begann die Automobilindustrie damit, Fahrzeuge individueller zu gestalten», erzählt Schögel. So kam etwa das offene Verdeck für Sommer-Versionen auf den Markt – ein guter Zusatzverdienst für die Autoindustrie. «Die Zahlungsbereitschaft der Kunden für Sonderausstattungen war und ist weiterhin hoch.»
Chance für den Standort Europa
Doch erst die Entwicklung der Technologie der Industrie 4.0 – 3D-Drucker, vernetzte Robotik, Big Data – erlaubt die Kombination von Massenproduktion und Individualisierung. Das Resultat heisst «Mass Customization». Diese ist inzwischen nicht nur in der technologisch führenden Automobilindustrie Realität, wo der Kunde neben Farbe, Polsterung und Felgenart zahlreiche weitere Spezifikationen wählt. Sie erobert nun auch weitere Branchen. «Anhand des Scans des eigenen Fusses können fortschrittliche Hersteller heute einen massgeschneiderten Turnschuh fertigen», weiss Schögel.
Heute ist die Technologie so weit, dass die Industrie mit ihren Leistungen auf individuelle Ansprüche eingehen kann.
Marcus Schögel, Professor und Direktor Institut für Marketing Universität St. Gallen
Für die Unternehmen heisst dies jedoch: Umdenken. In der konventionellen Industrie wird ein Produkt typischerweise in Europa oder Amerika entworfen, dann in einem Schwellenland in grosser Stückzahl produziert und wieder an den Detailhandel in der ersten Welt ausgeliefert. Die individualisierte Produktion erhöht den Zeitdruck: «Der Kunde mag nach dem Fuss-Scan nicht monatelang auf seinen Turnschuh warten», sagt Schögel. Customized-Unternehmen produzieren deshalb oft lokal. Für Schögel ist dies eine Chance Industrieproduktion wieder zurück nach Europa zu holen. «Denn oft benötigt eine Customized-Produktion grosses Fachwissen.»
Individualisierung verlangt eine neue Art der Kommunikation
Die Herausforderung von «Mass Customization» liegt jedoch nicht nur in der Herstellung, sondern auch in der Kommunikation mit den Kunden. Denn nur weil sie das Produkt mitgestalten, wird dieses nicht automatisch besser. «Man muss dem Kunden klarmachen, dass eine Müeslimischung aus Quinoa, Oliven und Sesam vermutlich bitter sein wird», sagt Schögel. Firmen müssten in Zukunft einen neuen Weg finden, die Kunden zu betreuen. «Der Kunde muss sich möglichst gut vorstellen können, wie sein Produkt in der Realität aussieht.» Schögel verspricht sich hierbei einiges von Augmented Reality-Ansätzen, die in der Autoindustrie bereits erprobt werden.
Hauptsache mitbestimmen
Vielleicht ist es auch gar nicht so tragisch, wenn ein vom Kunden gestaltetes Produkt nicht perfekt ist. Der deutsche Wirtschaftsprofessor Frank Piller, einer der führenden Forscher auf dem Gebiet, hat herausgefunden, dass der Prozess, in die Gestaltung ihres Produktes einbezogen zu werden, für viele Kunden wichtiger ist als das Resultat. Dieses Phänomen ist auch als «Ikea-Effekt» bekannt. Bereits 2009 liess ein US-Ökonom Probanden Gebote für zwei identische Möbelstücke abgeben. Eines hatten sie selbst zusammengebaut, das andere nicht. Die Gebote für die selbstgebauten Möbel waren deutlich höher. Oder, um die Psychologie hinter der Produkt-Individualisierung kurz zusammenzufassen: Ich habe es gemacht, also ist es grossartig.